Wahltag

 

Ein Blick über die Schulter verriet ihm, dass es erst fünf Minuten her war, als er sich das letzte Mal davon überzeugte, dass die Wartezeit definitiv zu lang war. Die an die Wand projizierte Uhr schien seine Ungeduld auszulachen. Obwohl die Zeiger keine Geräusche fabrizieren konnten, meinte er zu hören, wie sie bei jedem Vorrücken hämisch klickten. Leise, hohle Töne ... verzögert, ausgedehnt ins Unerträgliche. Er starrte die Uhr an und tippte mit den Fingern angespannt auf seine Oberschenkel.
„Es geht nicht schneller, wenn Sie sie anstarren.“
Die Stimme hinter ihm, erschreckte ihn, holte ihn aus seinen Gedanken zurück. Dieser Satz galt ihm. Wer erlaubte es sich, ihn hier anzusprechen. Er drehte sich um. Wie lange stand sie schon hinter ihm? Er hatte niemanden gehört, deswegen nahm er an, dass er der Letzte in der Warteschlange war. Misstrauisch beäugte er sie von oben. Sie war klein und alt. Ihre kinnlangen grauen Haare, zerzaust und struppig, standen ihr ein wenig vom Kopf ab. Die blasse faltige Haut erzählte von einem ereignisreichen und emotional geprägten Leben. Der Blick in ihre jungwirkenden Augen verriet ihm, dass sie ein Freigeist war. Sie musste eine derjenigen gewesen sein, die nach den Unruhen freiwillig ins Exil gegangen war. Nicht, weil sie dem Druck nachgegeben hatte, sondern weil sie nicht wie die anderen leben wollte. Behütet, wohlumsorgt und kontrolliert. Er hatte von diesen Menschen gelesen, verspürte heimlich Bewunderung für sie. Nie hatte er einen von ihnen getroffen und hielt sie lange für ein Mysterium. Was machte sie hier?
„Früher galt es als unhöflich, jemanden so anzustarren“, meinte die alte Frau. Ein kleines Zucken in ihrem Mundwinkel verriet, dass sie es ihm nicht übel nahm. Ihre Stimme war heiser, dennoch gefestigt.
Endlich fand er seine Sprache wieder. „Entschuldigen Sie. Ich hatte Sie nicht bemerkt, dachte, hinter mir sei niemand mehr.“
„Da haben Sie sich wohl getäuscht junger Mann. Ich bin durchaus jemand.“
„Sind Sie hier auch am richtigen Ort oder haben Sie sich verirrt?“, fragte er sie, ohne auf ihre Bemerkung einzugehen. Er wollte nicht unhöflich sein. Es kam ihm zu seltsam vor, dass eine Person wie sie, hier war.
„Ich bin hier schon richtig“, sagte sie mit Ausdruck in ihrer Stimme. „Nur weil ich alt bin, heisst das nicht, dass ich verwirrt bin.“
„Das wollte ich damit nicht sagen.“ Bildete er sich das ein oder versuchte sie, ihn zu provozieren. Ihr Verstand schien durchaus klar zu sein.
„Wir sind hier doch im Regierungsgebäude, richtig?“ Sie blickte ihn fordernd an. „In der Abteilung für das Mitspracherecht fürs Volk. Und heute ist doch Wahltag? Man sagte mir, dass ich im Eingangsbereich dem Computer mein Zielort nennen soll und dann den aufleuchtenden Spuren am Boden folgen könne. Das habe ich getan und hier hat es aufgehört zu leuchten. Genau hinter ihnen.“
Seine Augen weiteten sich. Aus Unsicherheit warf er einen Blick auf die nächste wartende Person vor ihm. Der Abstand war so gross, dass er annahm, dass sie nicht mithören konnte. Er fragte sich, warum er nicht nachgerückt war. Es musste daran gelegen sein, dass er zu lange auf die Uhr gestarrt hatte. Und jetzt realisierte er, dass die alte Frau nur versucht hatte, ihn darauf aufmerksam zu machen.
Er besann sich auf ihre Worte und meinte: „Ja, dann sind Sie hier wohl richtig. Aber ... ich möchte nicht unhöflich sein, wieso sind Sie hier?“
„Hab ich das nicht gesagt? Ich dachte, ich hätte mich deutlich ausgedrückt. Heute ist doch Wahltag. Ich bin zum Wählen hier, genau wie Sie.“
Verwundert hielt er den Kopf schief. „Oh, natürlich, das macht Sinn.“
Die alte Frau blickte ihn fragend an und ihre grauen Augenbrauen bildeten einen Halbbogen. „Warum sind aber Sie hier? Die jungen Leute von heute erledigen das doch von ihrem Mobilgerät aus?“
Instinktiv lange er in seine rechte Jackentasche und spürte die kühle metallene Oberfläche. „Richtig, das hätte ich tun können. Jedoch hat der Professor meiner Uni den Auftrag gegeben, einmal im Leben physisch abzustimmen. Und hier bin ich.“
Sie bewegte verstehend ihren Kopf auf und ab und ihr struppiges Haar wippte leicht mit.
„Ausserdem“, ergänzte er, „ist heute die letzte Gelegenheit dazu. Diese Option gibt es ab morgen nicht mehr. Es lohnt sich nicht mehr für die wenigen, die noch traditionell orientiert sind. Ob die Betroffenen sich nun anpassen oder es sein lassen?“
Sie reagierte nicht auf seine rhetorische Frage.
Er kratzte sich kurz an der Stirn und neigte sich ein wenig nach vorn. „Ich möchte wirklich nicht indiskret sein, aber warum stimmen Sie ab?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Warum nicht? Es geht uns doch alle was an, oder? Wir leben noch immer in einer Demokratie. Jeder Einzelne hat eine Stimme, die angehört wird.“
Erneut kratzte er sich. Diese Aussage passte nicht zu dem Bild von der Frau, die vor ihm stand. Hatte er sich so getäuscht in ihr?
„In Ordnung“, meinte er, „jetzt sage ich es ohne Filter, Sie sind doch eine Überlebende aus dem Exil? Was machen Sie hier? Unsere politische Ideologie von unserem Rechtsstaat stimmt doch nicht mit ihrer Lebensanschauung überein?“
Sie machte einen kleinen Schritt rückwärts. Ihre Mimik veränderte sich kaum, aber ihre Augen blitzten kurz auf. „Wie kommen Sie denn auf so etwas? Sie irren sich. Ich bin eine normale alte Frau, die sich noch an Dinge erinnern kann, die ihnen die Nackenhaare aufstellen würden.“
„Es tut mir leid“, murmelte er verlegen. „Ich habe da wohl die falschen Schlüsse gezogen. Ich bin einfach etwas verwundert, darüber, dass Sie sich in Ihrem hohen Alter noch die Mühe machen, hierher zu kommen. Ausserdem weiss ich von meinen Grosseltern, dass sie den Sachverhalt zu unseren hochkomplexen Gesetzen und Gesetzesänderungen kaum verstehen. Sie schätzen die angebotenen Kurse und absolvieren sie vor jedem Wahltag. Sie ebenso?“
„Kurse? Nein, das brauch ich nicht. Das geht auch ohne.“ Sie hielt ihre mit altersfleckenüberzogene Hand in die Höhe und tippte mit dem Zeigefinger an ihre Schläfe.
Er war verwundert. Entweder war diese alte Dame doch ein wenig verwirrt oder sie wollte es nicht zugeben. Es war keine Schande, Hilfe in diesen Dingen anzunehmen.
„Ihr jungen Leute meint immer, dass wir mit den neusten Errungenschaften nicht klar kommen“, sagte sie und runzelte die Stirn, „vergessen dabei jedoch, dass auch wir uns früher an die schnellen Veränderungen anpassen mussten. Und der Graben von unseren Älteren damals zu uns, war viel grösser als der jetzige.“
Ihm wurde warm. „Ich wollte Ihnen nicht unterstellen, dass Sie nicht klar kommen.“ Hastig steckte er seine Hände in die Hosentasche und wünschte sich, er wäre früher dem Ruf des Professors gefolgt.
Die alte Frau schien sein Unwohlsein zu spüren. Sie hielt den Kopf schief und musterte ihn argwöhnisch. „Woraus haben Sie geschlossen, dass ich eine aus dem Exil sein könnte?“
Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Nach Worten suchend, blickte er kurz zur Decke. „Die Art wie Sie sich kleiden und natürlich wegen ... entschuldigen Sie, wegen Ihrem hohen Alter.“
Es war von Weitem erkennbar, dass sie von Modetrends wenig hielt. Ihre Kleidung war schlicht, zweckdienlich und etwas abgetragen. Sie nickte, sagte aber nichts dazu.
Eine langgezogene und stille Minute später, räusperte sie sich. „Kennen Sie denn so jemanden?“
Er schüttelte den Kopf. „Bin nie jemandem begegnet. Ich kenne das nur aus dem Geschichtsunterricht. Ich dachte, es gäbe inzwischen gar niemanden mehr. Als ich Sie sah und wie alt Sie sind ... na ja, da hab ich es einfach angenommen. Verraten Sie es bitte niemandem, aber irgendwie hätte es mich gefreut.“
Überrascht über seine Aussage, reckte sie den Hals und blinzelte. „Warum denn das?“
Er zögerte kurz, überlegte, ob er seine Gedanken dieser Fremden anvertrauen konnte. Sie war so alt, womöglich hatte sie es ein wenig später schon wieder vergessen.
„Ich sage Ihnen das im Vertrauen. Es fasziniert mich, dieses alte Gedankengut. Zu gerne würde ich mich mit jemandem aus dem Exil austauschen. Wissen, warum sie sich damals nicht dazu entschlossen haben, sich der Mehrheit anzuschliessen. Warum haben diese Menschen den schwierigeren Weg gewählt? Sie mussten dort ohne fremde Hilfe überleben. Abseits jeglicher Zivilisation. Als vor zwanzig Jahren, ich war noch zu klein, um das zu begreifen, die Grenze wieder geöffnet wurde und viele von ihnen zurückkamen, musste das unglaublich schwierig für sie gewesen sein. Das waren grösstenteils ihre Nachkommen. Sie hatten die Konflikte selbst nicht erlebt. Nur wenige der Alten, die Originalbesetzung so zusagen, waren den Jungen in die Städte gefolgt.“
In der Mimik der alten Frau hatte sich etwas verändert, während er sprach. Es fiel ihm sofort auf. Ein Schleier hatte sich wie ein Schatten über ihre müden Augen gelegt und er fragte sich, ob das was zu bedeuten hatte oder sie nur erschöpft vom Stehen und Warten war. Warum dauert das so lange, ging es ihm durch den Kopf. „Geht es Ihnen gut?“, wandte er sich ein wenig besorgt an sie.
Sie blickte zu ihm hoch und nickte. „Alles in Ordnung. Es ist gut, dass Sie sich diese Fragen zur Vergangenheit stellen. Die jungen Menschen von heute, tun dies viel zu wenig. Und es ist auch nicht verwunderlich. So wie sie aufwachsen. Die Informationen und die vorgefertigen Schlüsse daraus werden ihnen ja beinahe auf direktem Weg ins Gehirn geblasen. Sie fällen ja gar keine Entscheide mehr selbst, sondern fragen ihre Mobilgeräte. Sie wenden sich immer zuerst an ihre Community. Jeder folgt dem anderen, stets bedacht, nichts Auffallendes zu tun. Und niemanden zu verärgern oder zu brüskieren. Brav wie die Lämmer.“
Verwundert über diese Aussage und die Wortwahl, lachte er kurz auf. „Sie gefallen mir. Sie sind anders. Unkonventionell, womöglich ein wenig verrückt.“
„Das höre ich nicht zum ersten Mal“, meinte sie, keineswegs beleidigt.
„Unser Gespräch beginnt spannend zu werden“, sagte er. „Jedoch vermute ich, ich bin bald dran. Ich sehe vor mir niemanden mehr.“
Sie folgte seinem Blick nach vorne, zum Ende des weissen Flurs und nickte. „Junger Mann, ich habe eine grosse Bitte an Sie. Könnten Sie mir nicht einen Stuhl besorgen, meine Beine wollen mich nicht mehr tragen.“
„Aber, es dauert sicher nicht mehr lange“, entgegnete er ihr und blickte auf die Uhr.
„Das weiss man nie, seien Sie bitte so gut. Und könnten Sie mir auch etwas Wasser bringen? Mir ist ein wenig schwummrig, ich hab heute wohl zu wenig getrunken. Unten vor dem Eingang habe ich einen Automaten gesehen.“ Sie lächelte und gelbliche Zähne kamen zum Vorschein.
Etwas verärgert über diese Bitte und mit dem Gedanken, dass dieser Botengang ein Weilchen dauern könnte, nickte er nur und meinte: „Natürlich.“
Er lief los und als er zurückblickte, sah er, wie die alte Frau in Richtung der Wahlräume lief, dorthin, wo er jetzt hinsollte. Er schüttelte den Kopf und begab sich zu den Aufzügen. Weit und breit war hier niemand mehr zu sehen. Die Büroräumlichkeiten der Regierungsbeamten befanden sich alle in den oberen Stockwerken des Hochhauses. Und wieder dauerte es ewig. Als der Lift endlich seine Etage erreicht hatte, stieg er etwas angespannt ein.
Unten angekommen, überlegte er sich, ob es überhaupt noch notwendig sei, der alten Frau einen Stuhl mitzubringen. Auch fragte er sich, wo er so einen auftreiben konnte. Er entschloss, zuerst das Getränk zu holen, und ging hinaus. Sofort umhüllte ihn die milde Frühlingsluft.
In dem Moment, wo er seine Hand mit dem integrierten Chip an den Scanner hielt, ertönte ein lauter Knall. Erschreckt zuckte er zusammen. Sein Verstand setzte kurz aus, doch sein Instinkt sagte ihm, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Das Geräusch klang in seinen Ohren nach, er meinte Schreie zu hören. Als er verwirrt um sich blickte, sah er Männer und Frauen, die davonrannten. Zwei von ihnen blieben abrupt stehen, standen da wie festgenagelt und sahen entsetzt nach oben. Er folgte ihren Blicken und taumelte unverzüglich ein paar Schritte rückwärts. In der Mitte des Hochhauses drangen schwarzer Rauch und gewaltige Flammen aus den Fenstern. Plötzlich holte ihn das aufdringliche Geräusch von Sirenen und Stimmenwirrwarr von verängstigten Menschen ein, wurde Teil seines Bewusstseins. Er traute seinen Augen nicht, konnte nicht begreifen, was da vor sich ging. Vor ihm ertönte ein zusätzlicher Laut, der nicht zu dieser Geräuschkulisse passen wollte. Ein lästiges Piepen und dann eine Computerstimme. „Bitte entnehmen Sie jetzt Ihr Getränk. Die Automatsolution dankt für Ihren Einkauf.“
Apathisch griff er danach, ohne nachzudenken, da wurde er von jemandem angerempelt. „Weg hier!“, schrie dieser. „Das ist Gefahrenzone, da kommen Bruckstücke runter!“
Er sah dem Mann, der panisch davonstob und dabei weitere Leute anrempelte, nach. Es dauerte einen Moment, bis er seinen paralytischen Zustand abschütteln konnte. Verängstigt und überfordert brachte er etwas Abstand zwischen Hochhaus und sich. Das Getränk hielt er mit festem Griff, so, dass die Handknöchel weiss hervortraten. Gebannt starrte er hoch, begriff nicht, was geschehen war. Schweiss drang aus seinen Poren und sein Herz pochte wie wild.
„Ist Ihnen was passiert? Sind Sie in Ordnung?“, wurde er von der Seite angesprochen. Er blickte verwirrt zu der jungen Frau neben ihm.
„Was? Nein, ich bin in Ordnung. Was ist hier los?“
Sie nahm den Blick von ihm und sah zu den Flammen hoch. „Ich weiss nicht, was geschehen ist. Eine Explosion. So wie es aussieht im zehnten oder elften Stock. Die armen Leute.“
„Zehnter oder elfter Stock?“, murmelte er. „Da war ich soeben noch.“ Entsetzt sah er zu ihr rüber, doch sie hatte seine Worte nicht mehr mitbekommen. Er sah gerade noch, wie sie zu anderen Schaulustigen lief, um sich mit denen auszutauschen.
Die Geräusche um ihn herum verschwammen zu einem Einheitsbrei, er hörte bloss sein Herz und die sich wildumschlagenden Gedanken. Geschockt blickte er auf das Getränk in seiner Hand. Der Wunsch der alten Frau hatte sein Leben gerettet. Er hätte jetzt tot oder schwer verletzt sein können, gefangen in einem brennenden Inferno. Und dann folgte eine Erkenntnis und diese liess ihm den Atem stocken.

 

20.12.2021

© Y. M. Aküzüm