Mit heftig klopfendem Herzen streifte er durchs Dickicht. Schweißperlen rannen ihm über die Stirn und ließen seine halblangen Haare daran kleben. Behutsam setzte er einen Schritt nach dem anderen und achtete darauf, auf keinen dürren Zweig zu treten. Die spitzen Blätter und Dornen der Sträucher zerkratzten seine Unterarme. Das nächste Mal würde er daran denken, eine Jacke anzuziehen. Das diffuse Licht der beginnenden Dämmerung erschwerte seine Suche, aber angestrengt hielt er die Augen weit offen und suchte nach seinem Ziel. Er wollte schon aufgeben, als er etwa zehn Meter vor sich eine Bewegung wahrnahm.
Er duckte sich und verharrte mucksmäuschenstill. Besser hätte es für ihn nicht laufen können. Einen Rothirsch aufzuspüren, das gelang nicht jedem. Nichtsahnend stand das imposante Tier vor einem Baum und zerrte ein Stück Rinde ab.
Im Zeitlupentempo setzte der junge Späher sein altes Jagdgewehr an und versuchte, besonders genau zu zielen. Da vernahm er ein kaum vernehmbares Geräusch hinter sich und spürte eine Hand auf seiner Schulter.
„Warte, Demetrio“, flüsterte sie so leise, dass er sie kaum verstand. Sie kauerte sich neben ihn und gab ihm zu verstehen, sich hinzulegen, damit er besser zielen konnte.
„Atme flach und ziele genau auf sein Herz. Du willst es nicht verletzen und unnötig verängstigen. Du willst es töten. Sei dir dessen bewusst.“
Demetrio schloss kurz die Augen und atmete einmal tief durch. Dann befolgte er ihren Rat. Er zögerte, verspürte Angst. Bisher hatte er es für leicht gehalten, ein Tier zu töten. Jetzt jedoch befielen ihn große Zweifel.
„Denk an die Leute in der Siedlung. Sie alle wollen etwas zu essen. Du tust es nur deswegen. Leben und sterben. So einfach ist das. Du schaffst das.“
Der Rothirsch hob den Kopf, witterte offensichtlich etwas, verharrte kurz, und in diesem Moment drückte Demetrio ab. Das Tier zuckte und brach sofort tot zusammen. Ein perfekter Schuss.
Der erleichterte Späher stand auf und traute seinen Augen nicht. „Ich hab es geschafft, Mana … ich … ich hab ihn erwischt!“
In diesem Moment kamen die anderen Jäger angerannt. Sie klopften dem Jüngling auf die Schulter und gratulierten.
„Das hast du gut gemacht, gratuliere, Kleiner. Jetzt bist du offiziell ein Mann und darfst uns zur Jagd begleiten.“
Sander, der kaum größer war als Demetrio, fasste ihn am Arm. „Nun kommt die zweite Lektion. Du darfst das tote Tier nicht zu lange so liegen lassen. Je schneller du es ausnimmst, umso besser. Die Zeit würde heute zwar auch reichen, um in die Siedlung zurückzufahren und das dort zu erledigen, aber du lernst es jetzt und hier. Das letzte Tageslicht reicht aus. Mana, ich überlasse dir das. Du hast ihm das Jagen beigebracht, dieser Teil gehört ebenso dazu.“
Mana schnappte den Jungen und ging mit ihm zu dem erlegten Wild. Sie kniete sich neben das tote Tier hin und zückte ihr Jagdmesser. „Du kannst meines haben, bis du ein eigenes besitzt. Ich zeige dir, wo man den Schnitt ansetzt. Wie Sander gesagt hat, ist es wichtig, dass du das Tier schnell aufbrichst und ihm die Innereien entnimmst.“
Die erfahrene Jägerin leitete ihn an und zeigte ihm, wie er vorgehen musste, damit er die Organe nicht verletzte, denn vieles davon konnten sie verwenden. Demetrio stellte sich geschickt an, er hatte den Jägern schon oft dabei zugesehen. Sie spürte den Stolz des Jungen und freute sich mit ihm. Er war soeben zu einem wertvollen Teil ihrer Gemeinschaft geworden.
Es war dunkel, als sie zurück in der Siedlung waren. Die Männer brachten die Beute zur weiteren Verwertung in eines der Häuser und Mana ging zum Brunnen, um sich die Hände zu waschen. Die wenigen Lampen, die per Generator betrieben wurden, spendeten gerade so viel Licht, dass man sich nicht im Stockdunklen begegnete. Die Luft an diesem milden Frühlingsabend roch nach Rauch und warmer Erde. Mana setzte sich zufrieden auf die steinerne Bank neben dem Brunnen. Sie liebte diesen Platz zu jeder Tageszeit. Egal, ob geschäftiges Treiben die Szenerie erfüllte oder eine beruhigende und sanfte Stille herrschte, die wie eine Decke alles umhüllte.
In Gedanken versunken merkte sie nicht, wie die Zeit verging, da erblickte sie, wie ihr Schützling den Platz überquerte. „Demetrio!“, rief sie ihm zu und stand auf. „Vergiss nicht, den Generator abzustellen. Wir haben Diesel nicht im Überfluss!“
Sie blickte den jungen Mann streng an und stemmte ihre Hände in die Hüften. Eine Strähne ihres schwarzen lockigen Haars fiel ihr ins Gesicht, genervt strich sie es hinters Ohr.
„Klar, Mana. Das hätte ich nicht vergessen!“, kam es zurück. Demetrios dunkle Augen blitzten auf und bevor sie etwas sagen konnte, huschte er weg.
„Denkst du nicht, dass du ein wenig zu streng mit ihm bist? Er hat sich heute bewährt und gezeigt, was in ihm steckt.“
Mana hatte Einars Schritte nicht gehört. Sie war unmerklich zusammengezuckt, als sie seine tiefe Stimme direkt hinter sich vernommen hatte. Als er sie an den Schultern berühren wollte, wandte sie sich zu ihm um und schaute ihn bestimmend an.
„Ich denke nicht, Einar. Demetrio ist ein guter Junge, das ist mir bewusst, aber er braucht eine strenge Hand. Außerdem ist er in einem schwierigen Alter. Grenzen und klare Strukturen sind wichtig für ihn. Als wir ihn bei uns aufnahmen, war er in einem kritischen Zustand – körperlich und seelisch. Nun geht es ihm besser. Er braucht Aufgaben und Vorbilder. Nur weil er heute von den Männern akzeptiert wurde, heißt das nicht, dass er seine Pflichten vernachlässigen kann. Gerade du, als unser Anführer müsstest ihm ein Mentor sein. Eine Vaterfigur.“
Einar nickte und strich Mana sanft die widerspenstige Haarsträhne hinters Ohr.
„Wie recht du hast, meine Liebe. Ich werde mich seiner annehmen und ihm etwas mehr Manieren und Disziplin beibringen. Außerdem haben wir ja wahrlich nicht genügend Diesel.“ Einar trat etwas näher an sie heran: „Mana, teilst du heute Nacht das Bett mit mir?“
Sie schenkte ihm ein sanftes Lächeln und sah konzentriert in seine nussbraunen Augen. Sie suchte etwas darin, das zu finden sie schon fast aufgegeben hatte. Und auch an diesem Abend fand sie es nicht.
„Es tut mir leid. Sander wartet auf mich.“ Sie strich ihm liebevoll über seinen üppigen Bart und ließ ihn alleine zurück.
Auszug 1. Kapitel DER KREATOR II
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